"Ingorata"
Text, Fotos: V. Spiegelberg
"Ingorata" vor Warnemünde
Volker Spiegelberg: Ein etwas anderer Rückblick
Eiskalt war es am 18./19 November 1998. Doch die Minusgrade wurden mehr als ausgeglichen durch die erwärmende Freude, als die Yacht bei nahezu Windstille langsam in Sichtweite von Wilhelmshöhe kam. Festgemacht am Alten Strom in Warnemünde und rein in „Achterreeg“ – Grog, Grog, Kööm, Essen, Grog, Kööm, Kööm. Musste warmhalten bis zum nächsten Morgen. Klappte auch. So war der Übergang vom DHH, bei dem die Yacht über viele Jahre viele Freunde gewann, zu den neuen Eignern, von Glücksburg nach Rostock, vollzogen. Mit kleinem Festakt an Bord.
Erst langsam überkam uns eine Ahnung von dem Schatz, den wir da entdeckt hatten. Wer eigentlich war Max Oertz? Kaiseryachten und Kruppyachten - aber sonst? Gut, von van de Velde hatte man schon mal was gehört. Jungendstil, Bauhausstil, Neue Sachlichkeit – wie jetzt, alles zusammen oder was? Weimar und/oder Dessau?
Aber um diesen Schatz zu heben, sollte noch viel Wasser die Warnow und die Peene runter fließen. Und da man so etwas nicht allein schaffen kann, packten gleich viele Hände mit an. Stellagen gebaut. Mitten im Winter 98/99 über die Kaikante gehoben. Heizung eingebaut. Wasserversorgung installiert. Kojen ausgebaut. Konzept für die Werft gestrickt. Im Sommer 1999 die ersten Törns. Ohne Andreas geht gar nichts. Aber – Appetit auf mehr Meer geholt.
Im Sommer nebenbei Werft für Überholung gesucht. War viel dringender als erwartet, denn die Spanten waren so zugebaut, dass über 70 Jahre keiner hin sehen konnte (oder wollte). Trotz Gut- achten nicht gut.
Spantgerüst der "Ingorata" - Schlichting-Werft 1928
eder an der Küste kennt ihn. Er sagt nicht immer die Wahrheit, aber er hat auch nie so ganz Unrecht. Manchmal ist er schneller als die Realität. Der Küstenklatsch. Die INGORATA ist kaum noch schwimmfähig wegen der total verrotteten Spanten, so weiß das ein jeder, der die Yacht (nicht) kennt. Und das sind Viele. (Im Mai 1999, kaum zur Rumregatta in Flensburg festgemacht, sagt der Klassiker - Nachbar: „INGORATA kenn ich, hat kaputte Spanten“. Dann erst sagte er: „Guten Tag“.)
Das interessanteste Angebot machte eine polnische „Spezialwerft“: „ Werfen Sie das Schiff doch weg, ich baue Ihnen ein Neues für ?00 000,- DM “! Der Eigner hat diesen „Fachmann“ sehr kurz und sehr unhöflich von Bord gewiesen. Und womit? Mit Recht.
Wir landeten dann bei Löll & Nagel in Kröslin und Wolgast. Und wir sind dort fachlich sehr gut gefahren. Da das ja nun keine Arbeit von der Stange ist, war das Mitdenken aller Bootsbauer gefragt und es bleibt unvergessen, mit wie viel Engagement alle dabei waren. Aber ohne Andreas Wenndorf mit seinen goldenen Händen und Ingo Beyer mit vielen wertvollen Tipps, z. B. verdanken wir ihm den großen Raum Messe mit Pantry, wäre die Komplettsanierung niemals so gut gelungen. Klar, es dauerte ein Jahr länger und es wurde auch ein Jahr teurer als geplant. Aber wir konnten alle noch vorhanden Originalteile erhalten. Das war es wert! Erster Törn, mit noch frischem Lack, über Sassnitz nach Klintholm. Mistwetter. Einigen reicht es seit dem. Für immer. Wie meinem Freund Fritz. Einige wissen seit damals: mit unter Deck is nich. Machen trotzdem mit Freude weiter.
2010: Die Messe
Nach drei, vier Jahren lichtete sich langsam der Nebel über der Vergangenheit des Schiffes. Auch über unsere Webseite (www.sy-ingorata.de) kommen die Familien der ehemaligen Eigner und zeigen großes Interesse am Schicksal der Yacht. Und alle, ausnahmslos alle, haben nur gute Erinnerungen an diese schöne Yacht. Da meldet sich aus der Schweiz eine Dame und stellt sich vor als Nichte des ehemaligen Besitzers E. Osthaus und ist hoch erfreut, dass es die INGORATA noch gibt. Im gleichen Ort in der Schweiz wohnt aber auch die mit ihr befreundete Tochter des Ersten Konstrukteurs bei Max Oertz auf dessen Werft Am Reihersteg in Hamburg. Diese schickt mir gleich ein, für sie sicher sehr wertvolles, Fotoalbum mit hochinteressanten Bildern aus dieser Zeit. Faszinierend.
Bericht über die "Ingorata" in der "Yacht" 1929 (Seiten bitte anklicken!):
Eberhardt Osthaus hat die Yacht von 1927 bis 1929 bauen lassen und nach Berechnungen seines Hausastrologen den Stapellauftermin und den der Jungfernfahrt bestimmt. Dem Schiff blieb bis heute das Glück treu, ihm eher nicht. Er musste die Kreutzeryacht verkaufen. Sie überstand Brände in der unmittelbaren Nachbarschaft und die Kriegszeiten. Doch mit dem Eignerwechsel gingen auch Familienbande entzwei, bis in heutige Tage.
Henry van de Veldes Salonentwurf
Der erste Eigner Osthaus war ein begnadeter Segler, der vor und nach unserer INGORATA noch zwei weitere Yachten dieses Namens (Ingorata und Ingorata IV) hatte, mit denen er immer in den Regattalisten der Jahre 1926 bis 1938 vorn vertreten war. Auch war er ein fabelhafter Erzähler, wie sein Bericht in der "Yacht" über die Jungfernfahrt nach Norwegen verdeutlicht (Seiten bitte anklicken):
Der nachfolgende Eigner A. Colsman brachte die Yacht mit Liebe, viel Einsatz und Bootsmann Braatz über die schwierigen Jahre von 1931 bis 1968. Er lernte segeln auf der INGORATA. Mit Erfolg. Er gewann mehrere Nordseeregatten und steht so gemeinsam mit der IngorataI IV. von E. Osthaus in den Ergebnislisten des Jahres 1938 (siehe Yachtsportarchiv). Viel Jahre verbrachte er die Sommer mit Familie, Freunden und auch mit berühmten Gästen auf der Ostsee.
Mit dem Sohn von E. Osthaus verbindet uns heute ebenso eine Freundschaft wie mit der Tochter/ Schwiegersohn von A. Colsman. Obwohl über 80, sind beide sehr begeistert mitgesegelt. Sie öffneten ihre Fotoalben und ließen uns hemmungslos abfotografieren. Sie gaben uns alles, was sie von und über das Schiff noch hatten. Alle Original–Zeichnungen. Komplette persönliche Unterlagen. Eine Original–Decke aus der Eignerkabine von 1929. Und vieles andere mehr. Der Enkel von Bootsmann Braatz schenkte uns ein Bild der Yacht als Kohlezeichnung eines Dänen von 1935.
Zusammen mit Unterlagen aus dem Staatsarchiv in Brüssel und eigenen Recherchen (z.B. mit freundlicher Genehmigung des FKY im Yachtsportarchiv) konnte so von 10/2008 bis 03/2009 eine Ausstellung in der Villa Esche in Chemnitz unter dem Titel „Henry van de Velde und die Kreutzeryacht INGORATA“ gestaltet werden, die sehr viel Anklang fand.
Zuletzt bleibt und ist doch die Hauptsache: das Segeln. Die Ostsee kreuz und quer durchpflügt: Neustadt, Kiel, Flensburg, Tallinn, Visby, Kalmar, Klaipeda, Danzig, Karlskrona, Simrisham, Ystad, Nysted, Malmö, Kopenhagen, Flak Fortet, Skanör, Helsingborg, Helsingör, Göteborg, Oslo, Stavanger, Lysefjord, ...
Und immer noch ist sie schnell. Zwei Mal die Hiortenregatta gesegelt. 2004 gewonnen und 2007 Zweite. 2009 in der Danziger Bucht, zwischen drei Gewittern und begleitet von einem herrlichen Wetterleuchten über Kaliningrad, fuhren wir unter Vollzeug 13,2 Knoten! Mehrfach überschritten wir in den letzten Jahren 12 Knoten. Unglaublich.
Und immer gelöste Stimmung an Bord. Bei schwerem Wetter niemals ein Gefühl der Unsicherheit. Fast immer ein trockenes Deck. Manchmal steigen neue Leute mit auf, aber immer steigen Freunde ab! Und kochen kann man an Bord, hmmmmm!!
Und nach dem Sommer kommt die Freude am Apre`s-Sail: Ein toller DVD – Bericht in immer höherer Qualität, jährlich ein erstklassiger, ausführlicher Reisebericht, ein einzigartiger INGORATA-Kalender in limitierter Auflage und dann der INGORATA–Abend im RSC 92 Vereinshaus im Stadthafen Rostock!
Möge die INGORATA auch weiterhin unseren Geist und unsere Freundschaften beflügeln. Und diesem unserem Schiff (und dem Lebensschiff ihrer vielen Freunde) immer eine handbreit Wasser unterm Kiel!