Seemannschaft für Klassiker - oder noblesse oblige
Ist Seemannschaft neu zu definieren? Anmerkungen von Bert Lorbach.
Welcher Segler oder Schiffseigner hätte es nicht schon in der Hand gehabt oder schon länger im Bücherschapp stehen: Das Blaue, „Die Seemannschaft“, das 1929 in erster Auflage erschienene ultimative Standardwerk für Generationen von Seglern, das fortlaufend aktualisierte „Handbuch des Yachtsports“ aus dem Delius-Klasing-Verlag, in dem von Belegnagel bis GMDSS das ganze Grundlagenwissen des Segelsports zu finden ist. Dem kann dieser Artikel natürlich nichts hinzufügen.
Erstausgabe 1929
Wikipedia sagt über „Seemannschaft“, dass man darunter „die Fertigkeiten versteht, die ein Seemann zur praktischen Handhabung eines Wasserfahrzeuges beherrschen muss. Die Anforderungen an einen Seemann, und insbesondere an den verantwortlichen Schiffsführer, sind sehr vielseitig. Sie variieren dabei je nach der Art des Schiffes, dem Fahrtgebiet, dem Wetter und Seegang, Fähigkeiten und Anzahl der Besatzung sowie zwischen Berufsschifffahrt und Sportschifffahrt.“ Dem will dieser Artikel nichts hinzufügen.
Was bleibt denn da noch, wird der Leser nun fragen und hoffentlich dem Impuls widerstehen, weiterzublättern. Stellen Sie sich lieber einmal vor, Sie seien mit Ihrem klassischen Schiff auf Törn und wären abends in einem Hafen angekommen. Kämen Sie auf die Idee, dass es das Erste und Schönste sei, ein Anlegerbier herauszuholen und laut auf die „gute Seemannschaft“ anzustoßen, damit all die umliegenden Gäste, die Ihren zehn Anlegeversuchen zwangsläufig zuhören und zusehen mussten, auch erkennen, dass das alles so geplant war, und Sie vor Selbstbewusstsein nur so strotzen?
Oder: Hielten Sie es für einen positiven Beitrag zur Hafenatmosphäre, die anderen Gäste laut am eigenen Musikgeschmack teilhaben zu lassen, weil Bordmusik immer schon Bestandteil des seemännischen Ambientes gewesen ist? Vielleicht sängen die anderen ja mit und Sie täten nebenbei und geschickt noch etwas für die Völkerverständigung. Außerdem hätte sich die Investition in die teuren Cockpitlautsprecher gelohnt.
Oder: Fänden Sie es heimelig, beim Barbecue am Kai eine lauschige Lagerfeueratmosphäre zu schaffen? Der Duft von Holzkohle und edlem Grillfleisch ließe den Leuten auf den anderen Booten das Wasser im Munde zusammenlaufen. Auch Ihre Auftritte in geripptem Unterhemd und Flip-Flops hinterließen gerade bei der segelnden Damenwelt einen unvergesslichen Eindruck.
Spaß bei Seite, lieber Leser. Die Liste solcher Erlebnisse ließe sich noch eine ganze Weile verlängern. Sie kennen das sicher aus eigener Erfahrung. Was hier über das Fehlen an zivilisiertem Benehmen beim Aufenthalt in einem Hafen ironisch überspitzt gesagt ist, setzt sich mit schlimmen Folgen zunehmend auch draußen auf dem Meer fort. Da werden Kollisionsverhütungsregeln missachtet, da wird das Material verkannt und überlastet. Oft ist es auch das eigene Können, das der Mannschaft oder die eigene Gesundheit, die sträflich falsch eingeschätzt werden. Die Jahresberichte der DGzRS sind nur eine Quelle, die zeigt, dass für viele auf See wohl ein rechtsfreier Raum zu bestehen scheint und die „Risikofreudigkeit“ zum Kavaliersdelikt verniedlicht wird. Ein Mindestmaß an Rücksichtnahme und Stil: dies scheint, wie viele andere Tugenden in unserer Gesellschaft auch, nur noch etwas für altmodische Spinner und Prinzipienreiter zu sein.
Dabei sind Höflichkeit, Hilfsbereitschaft, Vorausschau, Bescheidenheit, Respekt und Verantwortung Tugenden eines maritimen Sittenkodex`, der sich über Jahrhunderte entwickelt hat. Wer täglich mit den Urgewalten auf dem Meer konfrontiert war, wer sie hautnah erlebte, dass er nach Sicherheit für sein Leben verlangte, ebenso wie die Mitfahrenden für ihres, der wird den Kodex fest in seine Verhaltensmuster integriert haben.
Dieser Kodex war neben der Überlebensfrage aber auch eine Charakter- und Stilfrage. Ein solches Verhalten „adelte“ den Seemann, es adelte die Mannschaft – und das Schiff, auf dem man fuhr. Dieser Kodex ist der eigentliche Kern des Begriffs „Seemannschaft“. Ohne diesen - anscheinend immer mehr verschwindenden - ethischen Kanon bleibt Seemannschaft reine Technik und Pragmatik und die Kultur des Segelns begibt sich in den freien Fall.
Gerade bei Regatten, insbesondere bei Tonnenmanövern, kommen die Statuten der Belle Classe, wie Sportsgeist und Schutz der Yachten und Segler voll zum Tragen.
Für Menschen, deren Herzen an ihren klassischen Holzbooten hängen, die ihre z.T. schon sehr alten Lieblinge aus Freude an den Formen, dem Material, dem Segelverhalten usw. bis ins Detail kennen, spielt der Aspekt der Tradition per se eine wichtige Rolle. Stolz werden die Lebensgeschichten der adligen Schönheiten herumerzählt. Respektvoll wird zugehört (sicher, manchmal auch neidisch oder gelangweilt). Wir sind uns dauernd bewusst, dass wir mit etwas Besonderem umgehen. Wir haben Achtung davor. Wir wollen es schützen vor Zerstörung. Wir sind in gebotenem Maße vorsichtig.
Wenn ein Skipper seine elegante Schönheit auf dem Meer bewegt, kommt es meist zu einem entscheidenden „Ur-Erlebnis“: Es ist etwas Besonderes, das eigene Schiff dem Verfall entrissen zu haben, es sozusagen reanimiert der Tradition zurückgegeben zu haben. Es ist etwas Besonderes, weil so etwas nicht mehr gebaut wird. Es ist etwas Besonderes mit ihm die Weite und Eindringlichkeit auf dem Meer zu erleben. Es ist ein Vorrecht, das ich genieße, dem ich viele wunderbare Eindrücke verdanke, das mich regelmäßig und immer wieder erhebt, also „adelt“. Gerade deshalb ist der Eigner und Segler einer klassischen Yacht noch am ehesten derjenige, der schon von der Sache selbst her jene Charakterzüge, jenen Stil mitbringen müsste, den sein Schiff und der Umgang damit ihm gebietet: Achtung vor der spezifischen Geschichte (des Bootes, des Bootsbaus, des Yachtsports), Respekt vor den Menschen (dem Erbauer, den ehemaligen Crews, den jetzigen Mitseglern und vor allen anderen, die Ähnliches betreiben), Liebe zum Wasser und zum Wind (denn hierfür ist das Boot gebaut worden), also Liebe zur Natur (Verantwortung für die Umwelt). Deswegen wird die Antwort auf die oben gestellten Fragen bei Ihnen, liebe „Klassiker“, sicherlich rein rhetorisch sein. Wer stilvoll segelt, dem werden die häufig selbst erlittenen Verhaltensweisen fremd sein.
Deshalb, so meine ich, gibt es eben nicht nur eine bloße Interessengemeinschaft, einen Verband oder vielleicht gar kein Organ der Klassiker in Deutschland, sondern es gibt den „Freundeskreis“ - ein Begriff, bei dem man vielleicht mal wieder kurz innehalten und ein wenig nachdenken sollte.
Ich denke dabei an jene schönen Bilder vor der Hafenzeile in Sonderborg bei der Classic week 2006. In der Abendsonne hatten alle Teilnehmer, von der Jolle bis zum Zwölfer, ihren Platz im Päckchen gefunden. Helping hands jede Menge! Die Cockpits waren noch lange voll. So manches Gespräch wollte gar nicht enden. Kein Gegröhle oder sonstiger Unsinn. Die adligen Schönheiten waren, im Wasser wippend, schon zur Ruhe gegangen. Und man weiß ja: noblesse oblige- Adel verpflichtet.
Classic Week 2006 - SØnderborg
Und dann noch etwas: Der Yacht Club de Monaco – eine nun auch im juristischen Sinne adelige Adresse - besitzt seit 1995 die von William Fife 1909 gebaute 51 Fuß Yacht Tuiga. Sie ist ein fürstliches Geschenk des damaligen Prinzen Albert an den Yacht-Club. Dort wird sie seitdem als Flaggschiff benutzt für die mittlerweile über 50 handverlesenen klassischen Yachten und ihre Eigner. Der Verein hat hierfür einen eigenen Club eingerichtet und ihm den wohlklingenden Namen „La belle classe“ (Die schöne Klasse) gegeben. Man regattiert, man trifft sich regelmäßig, auch zum gemeinsamen Essen, man vergibt einen Preis, man ist stilvoll, aber nicht exklusiv im Sinne von Insider- und Ausgrenzertum.
Man hat sich - und das ist im Zusammenhang mit dem Thema dieses Artikels allerdings bemerkenswert - eine „Charta“ gegeben, der jedes Mitglied verpflichtet ist. In dieser Charta sind „Leidenschaft“, „Erbe“ und „Ethik“ die Leitbegriffe. Dabei steht die Leidenschaft für die Anstrengung, ein klassisches Boot in einen exzellenten Zustand zu versetzen und sich und andere an dessen Eleganz und Wert teilhaben zu lassen. Die Beachtung der nautischen Etikette, die gegenseitige Unterstützung, die beiderseitige Hilfe, würdiges Verhalten an Land und auf See, Achtung vor der Umwelt und angemessene Anerkennung für die, die für ihr (nautisches) Tun exzellent ausgebildet sind – das sind die wichtigen Traditionen, die „La belle classe“ an die zukünftigen Generationen weitergeben will. Dies betrachtet der Club als seine Herausforderung und Verantwortung. Natürlich mag man in diesem Zusammenhang nicht so ganz von den Reichen und Schönen in Monaco abstrahieren- dennoch: inhaltlich ist dem nach Auffassung des Autors kaum etwas hinzuzufügen, schon gar nicht abzuziehen.
Zuletzt etwas zum vergnüglichen Schmunzeln: wer es noch mal nachsehen und nachlesen möchte: Der große norwegische Bootsbauer und erfolgreiche Olympionike Johan Anker trug auch während der Regatten stilvoll und stilbewusst einen schnieken dunklen Blazer, weiße Hose, weißes Hemd, inklusive Vatermörder und Krawatte: so weit gehen die Vorstellungen und Forderungen des Autors für uns moderne Traditionalisten aber dann doch nicht.
Perfekter Gentleman:
Schon der junge Johan Anker trägt ständig Kravatte -
sogar an Bord achtet er auf Etikette.
Fotos: Ulf Sommerwerck