"Artemis" - Kreuzeryacht

Text und Fotos: Joachim Kaiser



Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts bis hin zum Ersten Weltkrieg wetteiferten die großen Seefahrtsnationen mit dem Bau großer repräsentativer Yachten, die sich auf zahllosen Regatten miteinander maßen. Yachten aus England und den USA beherrschten anfangs die Szene, erst nach der Jahrhundertwende machten auch deutsche Neubauten von sich reden. Anders als bei den Gebrauchsseglern, die immer stark regional geprägt waren, ähnelten sich die Yachten international sehr viel stärker. Sie verrieten eher die Handschrift ihrer Baumeister, die zu den besten Handwerkern, Bootsbauern und Konstrukteuren zählten. Zu allen Zeiten wurden Yachten zwischen allen möglichen Ländern hin- und herverkauft und trugen damit zur internationalen Verbreitung nicht nur des Sports, sondern auch der Schiffbaukunst bei. Besonders stark war dieser Transfer zwischen England und Deutschland; den ersten erfolgreichen Neubauten aus Deutschland gingen diverse Ankäufe gebrauchter Segler aus England voraus. Schiffstypen wie die Yawl - extrem hoher Großmast vorn und winziger Besan hinterm Ruder - und der Schoner - achterer Mast und Segel größer als vorn - kamen zuerst in Gestalt englischer und amerikanischer Yachten zu uns.

ARTEMIS ist eine der letzten erhaltenen großen Yachten aus der Hochblüte des klassischen Yachtbaus. Ihr Erbauer, die Werft von Summers & Payne in Southampton, zählte zu den besten Adressen. Sie ist 1913 aufgegangen in der weltbekannten und noch heute bestehenden Werft von Camper & Nicholson. Die Gewässer zwischen Southampton und der Isle of Wight, der Solent, war und ist eins der Zentren des Yachtsports und Geburtsstätte vieler herrlicher Yachten, von denen nur ganz wenige übrig geblieben sind.


LEANDER, Schwesterschiff der ARTEMIS

Die noch ganz aus Holz gebaute ARTEMIS besaß keinerlei maschinelle Hilfseinrichtungen; die riesigen Segel wurden ausschließlich mit Menschenkraft gesetzt und bedient, ebenso der Ankerspill. Sie besaß keinen Hilfsmotor und ist auch später nie mit einem solchen ausgerüstet worden. Zum Freischleppen der Yacht bei Flaute sowie zum Übersetzen auf der Reede war eine „steam launch“ vorhanden, ein kleines dampfgetriebenes Boot, das bei längeren Reisen der Yacht an Deck gehievt werden konnte.

ARTEMIS, benannt nach einer griechischen Gottheit, wurde erbaut für einen Mr. Frank Loughborough Pearson aus London, der einer im Tabakhandel reich gewordenen Familie angehört haben soll. Er schickte seine Yacht mit einer neunköpfigen Besatzung (darunter einen Koch und einen Steward) erstmals im Sommer 1900 auf Reisen. Ihre Teilnahme an ersten Regatten auf der Themse und im Kanal war nicht gerade erfolgreich; in der einschlägigen Presse wurden Schiff und Segeleigenschaften dennoch sehr gelobt, während die Bemerkungen über die Qualität der Schiffsführung nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig ließen. Es folgte die Teilnahme am „Heligoland-Cup-Race“, einer Zubringerregatta für die Kieler Woche von Dover nach Helgoland; der erste Preis war eine Stiftung von Kaiser Wilhelm II. Nach einem Fehlstart wurde ARTEMIS zwar nicht gewertet, konnte sich im Feld der elf teilnehmenden Yachten aber gut behaupten.




Während der Kieler Woche 1900 nahm ARTEMIS an diversen Seeregatten teil und segelte dabei im gleichen Feld wie die Kaiserliche Yacht „Meteor“, eine ebenfalls in England gebaute Yawl. Einmal errang sie immerhin einen dritten Platz - Preis: Ein silberner Becher - vor dem Schoner „Iduna“ der Kaiserin und hinter der „L’Esperance“ des Prinzen Heinrich, auch dies eine Yawl von Summers & Payne. Über weitere Regattabeteiligungen der ARTEMIS ist (noch) nichts bekannt.

1904 wechselte sie den Besitzer: Colonel W.G. Nicholsen aus London wurde neuer Eigner und blieb es bis 1938. Er brachte es später zum „Member of Parliament“; über seine seglerischen Aktivitäten ist nur bekannt, dass er Mitglied der Royal Yacht Squadron gewesen ist. 1938 erwarb William Bentley die Yacht, die damals noch segelklar gewesen sein soll. Er war Inhaber eines gut gehenden Austernkellers in London. Aber mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges war auch in England die Zeit der großen Yachten vorbei; die meisten lagen mit abgeschlagenen Segeln in stillen Hafenwinkeln oder auf Reede und gammelten vor sich hin. Viele wurden zu geringen Preisen verkauft und ihres tonnenschweren Bleikiels beraubt - die Rüstungsindustrie zahlte stattliche Summen.

ARTEMIS soll während des Krieges als sogenanntes Ballonschiff gedient haben. Zur Abschreckung feindlicher Kampfflugzeuge wurden damals diverse Fahrzeuge auf der Themse verankert und mit Ballons an langen Stahlseilen versehen.

Seit 1947 fand sie nur noch als Hausboot Verwendung; Takelage und Ausrüstung kamen von Bord - ein Schicksal, das sie mit fast allen großen Yachten teilte. Ihr Liegeplatz wurde nun West Mersea am Blackwater River nördlich der Themsemündung, wo sie inmitten einer Flotte anderer Hausboote allmählich mehr und mehr einschlickte.

Nachdem die letzte Mrs. Bentley, inzwischen längst Witwe geworden, aus gesundheitlichen Gründen das Schiff nicht mehr zu halten imstande war, erwarb „Jugend in Arbeit“ die ARTEMIS 1994/95 durch Vermittlung eines befreundeten Engländers, gestützt auf das Gutachten eines englischen Bootsbau-Sachverständigen. Die europaweite Suche nach einer restaurierungswürdigen klassischen Holzyacht hatte ergeben, dass kaum noch intakte Rümpfe aus dieser Zeit existieren und leider überhaupt keine mehr mit deutscher Herkunft. Im Herbst 1994 wurde ARTEMIS aus ihrem Schlickbett befreit, wozu ein 50 m langer Kanal zum tiefen Fahrwasser gebaggert werden musste. Nach Inspektion und behelfsmäßiger Reparatur auf einer nahegelegenen Werft erfolgte anschließend die Überführung nach Deutschland per Dockschiff.


Als Hausboot in West Mersea 1994

1996 wurde auf der Werft von „Jugend in Arbeit Hamburg e.V.“ mit der grundlegenden Instandsetzung des hölzernen Rumpfes begonnen. Dies erfolgte in Rahmen von Beschäftigungs- und Ausbildungsmaßnahmen; inzwischen haben mehr als ein Dutzend Bootsbaulehrlinge ihre Ausbildung im ARTEMIS-Projekt abgeschlossen. Die Ausbildungs- und Materialkosten werden durch Sponsoren aufgebracht, die von der Stiftung für dieses ehrgeizige Vorhaben begeistert wurden. Inzwischen geht ARTEMIS ihrer Vollendung entgegen: 2008 soll sie wieder unter vollen Segeln ihre alten Reviere befahren.

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